Ansprache auf der Peter Gingold Matinee (13.03.2016)
Wir erinnern heute mit Peter Gingold an einen der Großen aus der Zahl der Frauen und Männer der antifaschistischen Bewegung, die sich – anders als die ökonomische und politische Elite der damaligen Zeit – gegen den aufkommenden Faschismus gewehrt haben, die in der Zeit des Faschismus, aber auch im antifaschistischen Neubeginn und in den dann folgenden Jahrzehnten der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dieser Idee verbunden blieben.
Peter Gingold war in der Lage, Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und unterschiedlicher Generationen in der ihm eigenen Art gleichermaßen anzusprechen, sie zu faszinieren und von der Authentizität seines Anliegens zu überzeugen.
Ich nehme immer gerne die Beispiele, die hier in Frankfurt jeder sofort verstehen kann:
Er diskutierte mit seinen Nachbarn ebenso wie mit seinen politischen Genossen, er stand mit der autonomen Antifa auf den Straßenkreuzungen gegen Naziaufmärsche, auch an der Stelle, an der Günter Sare von einem Wasserwerfer überrollt worden war, und er stand auf der Bühne der Alten Oper und berichtete – unter großem Applaus – dem Frankfurter Bürgertum von den Verdiensten der Frauen im antifaschistischen Widerstand.
Er demonstrierte – manchmal mit ganz wenigen Aufrechten – vor den jährlichen Aktionärsversammlungen der IG Farben AG in Abwicklung oder an der Spitze von vielen tausend Menschen am 8. Mai 2005 gegen den geplanten Naziaufmarsch in Berlin.
Aber nicht nur in unserem Land wurde Peter geehrt.
Auch in Frankreich und Italien war sein großartiger Beitrag zum antifaschistischen Kampf unvergessen. Und während er in den 60er Jahren in der BRD als Kommunist noch quasi illegalisiert war, wurde er dort geehrt, später in der Dokumentation „Frankreichs fremde Patrioten“, in der auch sein Beitrag zur Befreiung von Paris zu sehen war.
Dieses hohe Ansehen als jüdischer Kommunist, als Antifaschist war nicht von Anfang an gegeben, das hat er sich im Laufe seines politischen Lebens unter großen Entbehrungen hart erarbeitet.
Und die Entbehrungen waren durchaus vielfältig. Am 8. März 1916 in Aschaffenburg geboren, siedelte die Familie schon bald nach Frankfurt, da die Lebensbedingungen für Juden und die Arbeit für einen Schneider, mit der der Vater versuchte die Familie zu ernähren, in dieser Großstadt besser waren. Peter besuchte in Frankfurt die Schule, erlernte seinen Beruf und kam hier aber auch in Kontakt zur Arbeiterjugendbewegung, wurde Mitglied in der Gewerkschaftsjugend und im kommunistischen Jugendverband.
Wie er selbst sagte, war das anfangs noch keine bewusste Entscheidung, aber in den täglichen Auseinandersetzungen wuchs und festigte sich seine politische Überzeugung. Insbesondere die direkte Konfrontation mit dem aufkommenden Faschismus stärkte ihn in seiner antifaschistischen Haltung.
Als der Faschismus an die Macht gebracht wurde, entschied sich die Familie zur Emigration nach Frankreich, für jüdische Menschen und politische Gegner wurde das Leben im Deutschen Reich zunehmend risikoreich. Peter hatte in diesen Tagen insofern Glück, dass er bei einer Verhaftung im Frühjahr 1933 nur als „Ausländer“ und nicht als politischer Gegner angesehen wurde, so dass nach wenigen Tagen seine Ausreise nach Frankreich zu seiner Familie möglich wurde.
Aber seine politische Überzeugung änderte sich durch diese Emigration nicht. So gehörte er in Paris zu den Jugendlichen, die die überparteiliche „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) begründeten.
Und im Paris vollzog er zwei grundlegende Entscheidungen für sein Leben, zu denen er bis zu seinem Tode stand – eine politische und eine private:
Die politische Entscheidung war sein Beitritt 1937 zur kommunistischen Partei, zur KPD. Obwohl der Faschismus in Deutschland zu dem Zeitpunkt recht fest im Sattel saß, war es Peters feste Überzeugung, dass diese Herrschaft nicht von Dauer sein würde und die kommunistische Idee auch in Deutschland siegen werde. Diese Partei blieb – trotz mancher Debatten, die er in den folgenden Jahrzehnten auch in den eigenen Reihen hatte, und vielerlei Anfeindungen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde – seine politische Heimat bis zu seinem Tode.
Die persönliche Entscheidung war seine Verbindung mit Ettie Stein-Haller, seiner großen Liebe, einer Rumänin, die er in Frankreich in der politischen Jugendbewegung gefunden hat und mit der er seit 1940 zusammen lebte, kämpfte und glücklich war. Diese Liebe trug auch ihn bis zum Schluss, eine Liebe, aus der die beiden Töchter, Alice und Silvia, hervorgegangen sind.
Doch stand diese Liebe in den ersten Jahren unter keinem glücklichen Stern. Peter wurde zeitweilig als „feindlicher Ausländer“ interniert und, als Ettie hochschwanger die Geburt von Alice erwartete, überfielen die faschistischen Truppen Frankreich, so dass Ettie in diesen Kriegswirren fast allein blieb.
Auch die Arbeit von Peter in den Reihen der französischen Resistance brachten oft längere Abwesenheiten. Zumeist gelang es ihm, dem faschistischen Terror zu entkommen, jedoch wurden bei einer Razzia gegen jüdische Bürger zwei Geschwister von Peter verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert.
Auch Peter wurde durch einen Spitzel verraten und geriet 1943 in die Fänge der Gestapo. Viele von euch kennen den spannenden Bericht seiner Flucht am 23. April 1943 durch die Tür am Boulevard St. Martin Nr. 11, ein Datum, was Peter später als seinen zweiten Geburtstag bezeichnete.
Wieder in Freiheit beteiligte er sich gemeinsam mit seinen Genossen und Kameraden am Aufstand 1944 von Paris und ging anschließend zur Unterstützung der italienischen Resistenza, wo er mit italienischen Partisanen in Turin den Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 erlebte. Er bezeichnete diesen Tag als “Das Morgenrot der Menschheit”. Das betonte er in allen Jahren, auch als man in der alten BRD noch von „Zusammenbruch“, „Katastrophe“ oder „Niederlage“ sprach. Folgerichtig machte er uns als damals jüngere Antifaschisten sehr deutlich, welch bedeutender Perspektivwechsel die berühmte Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 gewesen ist, als dieser staatsoffiziell den 8.Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnete.
1945 kehrte Peter nach Frankfurt/M. zurück. Während der Rest der Familie in Frankreich blieb, holte er seine Frau Ettie und die erste Tochter Alice aus Paris nach Frankfurt, wo er am antifaschistisch- demokratischen Neuanfang mittun wollte. Doch er wurde nicht nur mit offenen Armen empfangen. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen schrieb er:
„In unserer Nachbarschaft spürten wir eine gewisse Ablehnung. Die Nachbarn wussten natürlich, dass wir eine überlebende jüdische Familie waren. Selten, dass wir angesprochen wurden, und wenn, dann erzählten sie uns, was sie selbst durchgemacht hätten: der Mann an der Front gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, wie oft sie in den Luftschutzkellern in Todesängsten gesessen hätten. Sie sahen sich nur als Opfer. Es hat uns nie einer gefragt, was wir durchgemacht, wieso wir überlebt hatten. Es war die allgemeine Haltung, von all den Verbrechen nichts gewusst zu haben. Über das, was der jüdischen Bevölkerung angetan worden war, gab es das große Schweigen.“
Als Kommunist erlebte er 1956 nach dem KPD-Verbot eine erneute Illegalisierung und Verfolgung durch den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit. Damit besaß er z.B. keine legale Möglichkeit, sich mit seiner Familie und seinen Mitstreitern aus der Résistance in Frankreich zu treffen. Alle Versuche in den folgenden Jahren, sich ordnungsgemäß einbürgern zu lassen, scheiterten am damaligen Bundesinnenminister Genscher. Erst Anfang der 70er Jahre, als auch die Presse diesen Fall kritisch aufnahm, wurde die Familie eingebürgert. Doch damit war die Verfolgungssituation nicht beendet. Nun wurde die zweite Tochter Silvia, die Lehrerin werden wollte, von der hessischen Landesregierung mit Berufsverbot belegte. Peter Gingold ging daraufhin in die Offensive:
„Anhand unserer Familiengeschichte konnten wir die Gesinnungsverfolgung an drei Generationen nachweisen: Die meiner Eltern in der Kaiserzeit und Weimarer Republik, die Verfolgung meiner Familie im faschistischen Deutschland, jetzt nun meine Tochter als ‚Verfassungsfeindin‘ verfolgt. Bezeichnend ist die Kontinuität in der deutschen Geschichte. Linke waren in der Kaiserzeit die ‚vaterlandslosen Gesellen‘, in der Weimarer Republik ‚Reichsfeinde‘ und in der Bundesrepublik ‚Verfassungsfeinde‘“.
Peter Gingold wurde ein gefragter Zeitzeuge, der aus seinem Erleben politische Konsequenzen für einen anderen Umgang mit Geschichte und Erinnerung sowie mit der Losung „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ einforderte. In den 1980er Jahren kämpfte er gemeinsam mit Gewerkschaftern und jungen Antifaschisten gegen die „Aktionäre des Todes“ der „IG Farben AG in Auflösung“. Mehrfach trat er selbst auf den Aktionärsversammlungen auf und klagte die Aktionäre an, Profite mit dem Blut der Opfer von Auschwitz zu machen.
Als der damalige Außenminister Joschka Fischer den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung nach 1945 gegen Jugoslawien mit der „Verhinderung eines neuen Auschwitz“ legitimieren wollte, protestierte Peter Gingold mit einer ganzseitigen Anzeige in der „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift: „Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge“ gegen diese Instrumentalisierung von Auschwitz für Kriegspolitik.
Geschichtliche Erinnerung verstand Peter Gingold als Vermittlung von Erfahrungen und der Aufforderung, selber aktiv zu werden. Sein Leitmotiv, das er überzeugend vertrat, lautete: „Niemals aufgeben!“ Er verstand sich bei seinen vielfältigen Auftritten „als Reisender in Sachen Mutmachen“.
Peter gehörte zu den Gründern unserer antifaschistischen Organisation VVN schon 1946 in Frankfurt. Als Anfang der 70er Jahre eine Debatte um die Öffnung der Organisation für Nachgeborene zum „Bund der Antifaschisten“ stattfand, setzte er sich mit großer Vehemenz dafür ein, weil nach seiner Meinung die Jugend mit der Idee des Antifaschismus erreicht werden müsse.
Folgerichtig trat er seit den 70er Jahren verstärkt in Gesprächsrunden, in Schulklassen, bei Jugendgruppen und anderen öffentlichen Foren auf. Er konnte – wie ein Video einer Veranstaltung in einer großen Berufsschule in Bochum zeigt – junge Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft mit seiner schlichten, aber klaren und eindeutigen Art faszinieren, so dass sie sich am Ende zu „standig ovations“ erhoben – eine Reaktion, die man bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eher bei Popstars und Musikgrößen erlebt.
Ich möchte an dieser Stelle eine kurze Episode wiedergeben, die mir Heinrich Fink, der Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, vor längerer Zeit mal übermittelte, als er von einem gemeinsamen Besuch mit Peter an einem August-Tag in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald berichtete:
In Buchenwald war ein ungewöhnlich kühler Tag, es regnete und Peter fror. Auf dem Ettersberg bemerkte er mit leiser Stimme: “Wir frieren hier an einem kühlen Sommertag. Was müssen unsere Kameraden bei Frost, Schnee und bitterer Kälte, beim stundenlangen Stehen auf dem Appellplatz gelitten haben.” Wir gingen in den Zellenbau. Dort blieb er vor der Zelle von Paul Schneider stehen, sah mich an und sagte: “Pfarrer Paul Schneider erinnert mich an ein Versagen unserer antifaschistischen Arbeit. Hätten wir doch am Ende der zwanziger Anfang der dreißiger Jahre doch zusammen gefunden und ein Bündnis geschaffen mit all den Kritikern gegen den Faschismus, dann hätten wir vielleicht die Nazis verhindern können. Das war ein großes Versäumnis in unserem nicht koordinierten Widerstand! Das müßt ihr heute schaffen! Gegen Neonazis zu demonstrieren, heißt für mich, viele dafür zu gewinnen unabhängig von Parteizugehörigkeit und Weltanschauung. Die Kameraden in Frankreich haben das geschafft! Warum schaffen wir das nicht?” Peter diskutierte mit mir Gründe. Ein Grund war für ihn der Antikommunismus, der tief im deutschen Volk verwurzelt war und ist. Dazu kommt noch der permanente Antisemitismus, die Stigmatisierung Andersdenkender, die Ausgrenzung von Fremden. An der Gedenktafel für Ernst Thälmann wiederholte er noch einmal sein großes Bedauern: “Warum haben sich Ernst Thälmann, Paul Schneider, Rudolf Breitscheidt und Dietrich Bonhoeffer nicht vorher kennengelernt oder die Kommunistische Partei Kontakt zur Bekennenden Kirche gesucht? Dieses folgenschwere Versäumnis hat sie dann alle vier in dieses KZ gebracht.”
Soweit der Bericht von Heinrich Fink.
Diese Botschaft hat Peter in den letzten Jahren in vielfältiger Form wiederholt. In seiner Autobiographie formulierte er es noch prägnanter:
„Wenn ich in Versammlungen und Kundgebungen gegen die Umtriebe der Neonazis spreche, appelliere ich: Vergesst nicht unsere bitterste Erfahrung! Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben.
1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir alle diese Erfahrung, heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.“
Für Peter als Kommunisten war der Zusammenhang zwischen Imperialismus und faschistischer Politik unstrittig. Auch war es seine feste Überzeugung, dass die Zukunft dem Sozialismus gehören wird, selbst wenn – wie er es ja erleben musste – Rückschläge in der weltpolitischen Entwicklung das Ende der Sowjetunion und der DDR bedeuteten.
Aber diese feste politische Überzeugung machte er niemals zur Voraussetzung einer Zusammenarbeit in der antifaschistischen Bewegung. Dort galt für ihn die gemeinsame Basis des „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“, was dann auch gesellschaftliche Konsequenzen beinhaltete, wie er sie in dem gemeinsamen „Appell an die Jugend“ mit Esther Bejarano anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der VVN formulierte:
„Übernehmt Ihr nun diesen immer noch zu erfüllenden Auftrag: ein gesichertes menschenwürdiges Leben im friedlichen Nebeneinander mit den Völkern der Welt! Sorgt dafür, daß aus der Bundesrepublik ein dauerhaftes, antifaschistisches, humanes, freiheitliches Gemeinwesen wird, in dem einem Wiederaufflammen des Nazismus, nationalem Größenwahn und rassistischen Vorurteilen keinen Raum mehr gegeben wird.“
Das sind Aussagen, die bis zum heutigen Tag höchste Aktualität besitzen.
Indem wir dafür eintreten, ehren wir nicht nur alle Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Kampf, die oftmals ihre Gesundheit, ihre Freiheit und selbst ihr Leben riskiert haben, sondern helfen wir uns selber für eine bessere Gesellschaft.