Das folgende Interview mit Mathias Meyers, einem der beiden Autoren des Films „Zeit für Zeugen – Eine Hommage an Ettie und Peter Gingold“ wurde im Oktober 2012 von Eva Petermann geführt und erschien in leicht gekürzter Fassung in der HLZ – Zeitung der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung (Ausgabe 12/2012).
Wie ist der Film eigentlich entstanden?
Mathias Meyers:
Ein Film von Loretta Walz über die Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück, Hildegard Schäfer, hat den Titel „Wenn ich nicht mehr da bin, müsst ihr das machen!“ Über Jahrzehnte haben Zeitzeugen tausendfach Schulklassen besucht und auf diese Weise lebendigen antifaschistischen Geschichtsunterricht ermöglicht.
Das kann leider kaum mehr in dieser Weise stattfinden. Es leben nur noch sehr wenige von ihnen.
Kannten Sie denn Ettie und Peter Gingold persönlich?
a, wir haben viele Jahre zusammengearbeitet und waren befreundet. Peter Gingold hat uns zu seinen Lebzeiten öfter aufgefordert, uns Gedanken darüber zu machen, wie die politische Arbeit der Zeitzeugen gesichert werden kann.
Wie hätte die BRD sich wohl politisch entwickelt, wenn nicht diejenigen, die gegen den Faschismus an der Macht kämpften, sich immer wieder gegen Rechtsentwicklung und Faschisierung gestellt hätten? Wie viel größer wäre der Zulauf zu rechten und faschistischen Gruppen gewesen, wenn nicht die Zeitzeugen in Jugendgruppen und Schulklassen die Wahrheit über den Faschismus vermittelt hätten?
Unser Film über Ettie und Peter Gingold aus Frankfurt ist ein Beitrag dazu, diese Aufklärungsarbeit fortzusetzen.
Über Peter Gingolds Leben gibt es ja bereits einige Dokumentationen, z.B. des NRD. Was ist neu oder anders in Ihrem „Zeit für Zeugen“?
Ja, glücklicherweise wurden in den letzten Jahren etliche Filme über den antifaschistischen Widerstandskampf erstellt und Dokumente darüber gesichert.
Ein beachtlicher Fundus z.B. auch für Projekte von Schulklassen oder Geschichtskursen ist damit vorhanden.
In unserem Film „Zeit für Zeugen“ kommen, neben den Gingolds selbst, 24 Weggefährten zu Wort, so ein DGB-Vorsitzender, ein Frankfurter Rabbiner oder eine SPD-Abgeordnete. Sie erzählen von wichtigen biografischen Ereignissen und von der außergewöhnlichen Ausstrahlung der Gingolds
Bringen Sie denn auch neue historische Infos über sie?
Ja, insofern, als wir in unserem Film nicht auf die Zeit des Faschismus begrenzt bleiben, sondern uns auch mit der Zeit nach 1945 befassen. Zum Beispiel erzählt Ettie Gingold von dem Schock, der es für sie war, als elf Jahre nach der Befreiung vom Faschismus ihre Partei, die KPD, wieder verboten wurde. Wieder waren sie gezwungen, die politische Arbeit illegal zu organisieren, Hausdurchsuchungen zu erdulden etc.
Aber setzt Ihr Film nicht zu viel historisches Wissen voraus? Wer weiß denn heute noch, was der „Krefelder Appell“ war? Nur mal als Beispiel?
Ich meine, die Beschäftigung mit Etties Biografie ist ein sehr anschaulicher Geschichtsunterricht! Die Résistance-Kämpferin war später als Kommunistin in der Friedensbewegung der 1950er und der 80er Jahre aktiv und sammelte in und um Frankfurt sage und schreibe 12.000 Unterschriften unter jenen „Krefelder Appell“ gegen die Stationierung von US-Atomwaffen in Europa.
Natürlich kann ein halbstündiger Dokumentarfilm nur ein Anstoß sein.
Mit der Geschichte von Ettie und Peter Gingold wird jedenfalls sehr deutlich, dass nach 1945 nicht eine völlig neue Zeit begonnen hatte. Der Faschismus hatte eine Vorgeschichte und er hatte noch lange massive Nachwirkungen, bis heute.
Eine zentrale Szene im Film zeigt Peter Gingold vor der überfüllten Aula einer Gesamtschule, die übrigens als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ausgezeichnet wurde.
Es ist dort mucksmäuschenstill, als er sagt: „Ihr riskiert heute, wenn ihr euch gegen Rassismus und Ungerechtigkeiten wehrt, nicht das, was wir damals riskieren mussten. Aber macht das rechtzeitig, damit ihr nicht morgen das riskieren müsst, was wir damals zu riskieren hatten.“ Etliche hundert Schülerinnen und Schüler antworten ihm darauf mit standing Ovations!
Viele junge Menschen sind heute bei Demonstrationen gegen Nazis dabei. Der Film soll sie in ihrem Engagement bestärken. Wer sich – auch als Schüler oder Schülerin – mit heutigen Verhältnissen kritisch beschäftigt, will auch wissen, was gestern war.
Nun wird die Geschichte der Bundesrepublik ja gerne als reine „Erfolgsstory“ dargestellt. Dass zu ihr aber der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und Atomwaffenstationierung gehört, dass einerseits tausendfach Berufsverbote verhängt und andererseits Neofaschisten von staatlichen Stellen geduldet oder gar gefördert wurden – das sind eher die blinden Flecken in den Geschichtsbüchern.
Zurück zum Film – ist er denn bereits an Schulen gezeigt worden?
Nein, bisher noch nicht. Verschiedene Jugendgruppen haben den Film in etlichen Städten vorgeführt, wo er offenbar recht großen Eindruck gemacht hat. Wir würden uns aber freuen, auch mit Schulklassen und interessierten Lehrerinnen und Lehrern zusammenzuarbeiten. Mit ihnen zusammen wollen wir auch das Konzept zur Nutzung des Films im Rahmen des (Geschichts-)Unterrichts weiterentwickeln.
Was ist denn Ihr neuestes Projekt, jetzt, wo der Gingold-Film fertig ist?
Aktuell bereitet die Frankfurter Initiative gemeinsam mit dem Freien Schauspiel Ensemble in Frankfurt am Main eine Matinee zum 100. Geburtstag von Ettie Gingold im Februar 2013 vor. Das wird eine Hommage an diese wunderbare und mutige Frau.
Zusammen mit dem Mainzer Künstler Thilo Weckmüller von der „Werkstatt uah!“ arbeite ich außerdem noch in dem Projekt „Trotz alledem!“. In den bisher sieben Ausstellungen zeigten wir mehr als 70 Porträts und Kurzbiografien von antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern aus dem Rhein-Main-Gebiet. Die farbigen Porträts – Linoldrucke mit verlorener Form – und die Veranstaltungen im Beiprogramm der Ausstellungen stoßen vor allem bei Jugendlichen auf große Resonanz. Diese Ausstellung stellen wir gerne als künstlerische Erweiterung für antifaschistische Schulprojekte zur Verfügung.
Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg für Ihre Arbeit!
Die Fragen stellte Eva Petermann von der GEW Kreis Hof (Saale).